Geschockt rennt Sabine los. Sie will keinen mehr sehen, mit niemandem sprechen, nur noch alleine sein und weinen. Stundenlang läuft die 17-Jährige durch die geliebten Wiesen und Wälder ihres Heimatdorfes. Weg, nur weg, denkt sie, während eine Stimme im Kopf schreit: Du hast Schuppenflechte. Auch fast 40 Jahre später erinnert sich die schlanke Frau genau an den Moment nach der Diagnose. Seither hat die Krankheit sie jeden Tag beherrscht. Aber jetzt ist Schluss damit. Sabine Kreuzer ist seit kurzem erscheinungsfrei und will die schlimmen Psoriasis-Momente endlich hinter sich lassen – für immer.
Eine schwierige Kindheit
Das ist gar nicht einfach, denn Wunden und Angst sitzen tief. Schon früh brennt sich ihr ein Geruch ein. Ein süßlicher, schwefeliger Duft nach abgefackelten Streichhölzern hängt im Schlafzimmer der Eltern. Der Vater hat Schuppenflechte und schmiert sich mit einer übel riechenden Teersalbe ein, die entzündungshemmend wirken und den Juckreiz mindern soll. Sabine ekelt sich vor dem schwarzbraunen Gemisch aus Kohle an den gestärkten Bettlaken und muss die Schuppen im Haus penibel wegsaugen, wenn Besuch kommt. Sonst gibt es Ärger. Die Familie lebt in Luckau gut 100 Kilometer südlich von Berlin im ländlich geprägten Spreewald und hält nebenher Schweine, Gänse, Kaninchen.
„Die Tiere haben wir gehalten, weil es bei uns so wenig in den Geschäften gab“, erzählt Sabine, die eine landwirtschaftliche Ausbildung macht und sich mit ihrer Krankheit einigelt. Schüchtern versteckt sie die schuppende Haut so gut es geht und meidet Menschen. Muss Sabine nicht im Stall oder auf dem Feld arbeiten, streunt sie durch die Natur, beobachtet Vögel und sammelt Pilze. Vor ihrem Mann zieht sie sich nur im Dunkeln aus. Als die DDR 1989 untergeht, ist Sabine 22 Jahre alt, gerade Mutter geworden und von der Pso schwer gezeichnet. Auf Rücken, Beinen, Armen und dem Kopf blühen Plaques. Unmöglich, die hübschen Haare nach hinten zu werfen, Schuppen wären wie Schnee herausgerieselt.
Ein Leben voller Enttäuschungen
Gleich nach der Wende geht es in den Westen. In Barsinghausen sucht die kleine Familie eine Zukunft – und auch einen Dermatologen, der endlich helfen kann. Die alte Bergbau-Gemeinde bei Hannover ist beschaulich, das Ackerland rundherum hügelig und in den nahen Deisterbergen wachsen im Herbst Steinpilze und Pfifferlinge. Doch auch in ihrer neuen Heimat bleibt die Behandlung der Schuppenflechte in den 90er-Jahren eine Herausforderung. Auf der Suche nach geeigneten Therapien wechselt Sabine zehn-, zwölfmal den Arzt. Irgendwann hört sie auf zu zählen. Cremes, Salben, Licht, Tabletten: Äußere Anwendungen wirken nicht dauerhaft und die Tabletten verursachen Magenkrämpfe. Jeden Abend schrubbt sie die Plaques in der Wanne mit einem Bimsstein so lange weg, bis die Sommersprossenhaut blutig-rosa leuchtet und so dünn scheint wie Pergamentpapier.
Als Kind sei sie tollkühn gewesen, voller Tatendrang, offen und fröhlich, sagt Sabine und streicht eine Strähne aus dem Gesicht. Sie sei jedoch immer „kleingemacht worden“ und die Krankheit habe ihren „Mut geklaut“. Enttäuscht, deprimiert und nach dem Aus ihrer Ehe auf 40 Kilogramm abgemagert, nimmt sie sich vor, wieder positiv zu denken. Dann trifft sie Michael, der liebevoll ist und mit der Schuppenflechte kein Problem hat. Sie fahren Motorrad, feiern mit Freunden, gehen wandern und richten ihre Wohnung gemütlich ein, mit offener Küche, Blumenbildern sowie Ledersesseln – von denen sich Schuppen leicht abwischen lassen.
Eine Idee fängt Feuer
Psoriasis besiegen, diese Hoffnung hat Sabine längst aufgegeben. Bis Maria einen Tipp hat. Sabines 31-jährige Tochter lebt mit Mann sowie zwei Kindern im Nachbarort und ist „total begeistert“ von einer Hautärztin, die sie kennengelernt hat. Als Maria jünger war, hat sie nichts von der Krankheit mitbekommen. Kein Geruch, kein Fleck, keine üble Laune sollten Angst verbreiten. Nun sind Mutter und Tochter beste Freundinnen, die sich alles erzählen und gerne berühren. Wir sind füreinander da – so steht es eingraviert auf einer Holztafel in Sabines Wohnzimmer. Drumherum hängen Fotos der Enkel und Großeltern. „Vertrauen in der Familie“, sagt sie, „ist mir ganz wichtig. Und wenn Maria sagt, dass die Ärztin klasse ist, dann stimmt das auch.“
Eine einfache Entscheidung ist es dennoch nicht. Zu lange wütet der Schmerz schon auf der Haut. Zu viele Therapien waren wirkungslos. Zu tief sitzt die Angst, wieder enttäuscht zu werden. Und doch ist da ein wenig Optimismus, dass sich vielleicht etwas gegen die belastende und allgegenwärtige Krankheit machen lässt. Im Frühjahr 2020 fahren Sabine und Maria die kurze Strecke nach Wunstorf in die Praxis von Dr. Sandra Senger. Über eine halbe Stunde dauert das Erstgespräch. „Mir war schnell klar, dass etwas passieren muss. Frau Kreuzer hatte massive Beschwerden, unter anderem waren die gesamte Kopfhaut und die Nägel stark betroffen“, berichtet die Hautärztin, die ihre neue Patientin als tapfer, aber völlig desillusioniert erlebt.
Noch herrscht Skepsis
Gleich beim ersten Termin schlägt Dr. Sandra Senger, die zusammen mit ihrem Team im Jahr über 1.000 Psoriatiker betreut und seit langem innovative Medikamente einsetzt, eine Biologika-Therapie vor. Sie erläutert das Wirkprinzip, beschreibt die Erfahrungen mit anderen Betroffenen und erklärt, wie das Medikament verabreicht wird. „Ich hatte ein ganz gutes Gefühl. Dr. Senger hat sich intensiv mit mir beschäftigt und mir irgendwie in die Seele geschaut. Und sie hat deutlich gemacht, dass neue, moderne Medikamente, sogenannte Biologika, bei Menschen mit Schuppenflechte erfolgreich sein können. Gerade wenn die üblichen Medikamente versagen“, erinnert sich Sabine, die sich dennoch tagelang fragt: „Ist das überhaupt möglich?“ Auf ihre Skepsis verlässt sich die mittlerweile 53-Jährige schon so lange wie auf einen schützenden Mantel.
Was dann passiert, kommt Sabine „wie ein Wunder“ vor. Zwei Wochen nach der ersten Anwendung sind die kleinen Plaques weg. Nach vier Wochen verschwinden die großen Flächen. „Und nach sechs Wochen hatte ich nichts mehr auf der Haut“, sprudelt es heraus, während sie die Ärmel der Bluse hochschiebt und stolz ihre erscheinungsfreie Haut auf Händen und Armen zeigt. Lächelnd schüttelt sie leicht den Kopf, als ob die neue Freiheit nicht zu glauben ist. Schnell muss eine neue Frisur her, verstecken ist vorbei. Der Style ist kurz, frech und fröhlich. Und die alten Kleidungsstücke werden aussortiert, denn die Haut will endlich an die Luft und gesehen werden.
Die Krankheit verliert ihre Macht
„Ich bin einen langen, harten Weg gegangen und ich hatte schon fast aufgegeben – aber jetzt bin ich frei. Jetzt kann ich wirklich leben.“ Sie klagt nicht, sie klingt glücklich und entschlossen. Tochter Maria hängt sich bei ihrer Mutter ein und gibt ihr einen Kuss. Fallschirmspringen, in die Berge gehen, mit einem Wohnmobil einfach losfahren: Sabine kann offenbar nichts bremsen, ihre Träume zu erfüllen. Die Zwänge und der Druck seien weg, die Krankheit habe ihre Macht verloren. Sie streckt die Schultern selbstbewusst, lacht und ruft: „Wir haben es gemeinsam geschafft. Meine Tochter, meine Ärztin und ich sind ein starkes Team.
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